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Während die Hitze ein knallhartes Quartett mit den unzähligen Fliegen spielt, die gemeinsam ein wildes Intermezzo hinlegen, schwappt der letzte Schluck in meinem hochheiligen Gral traurig vor sich hin. Und er verhöhnt dabei meine mit jedem Meter trockener werdende Zunge ein Stück mehr. Noch 20 Kilometer, zwei Anstiege oder auch eine halbe Weltreise weit, meldet der Track, der mein letzter Anker im immerwährenden Grün zu sein scheint. Und mal wieder denke ich mir, welch‘ erholsame Wirkung doch ein langes Wochenende haben kann…

„Wer immer Ziele hat, bleibt nie stehen“

Damals, als das Jahr noch jung und die Verzweiflung schon älter war, wurde mir klar, dass ich längere Zeit nicht laufen werde. Und da Stillstand der erste Schritt in Richtung Aufgeben und das bekanntlich keine Option ist, musste ich mir neue Ziele setzen. Ziele, die so groß sind, dass man daran scheitern könnte. Und die einem zeigen, dass das Leben ein großes Spielfeld ist.

Nun stehe ich hier – 5 Monate später; mitten in einem Bikepacking-Event. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, während ich versuche möglichst professionell durch die Radmenschenmenge zu rollen. Locker ausgeklickt und den Rahmen des Rades beim Anlehnen direkt ordentlich zerschrammt, stelle ich mich blöd grinsend zu den anderen und bin froh, dass ich kein Stimmungsring bin, der vermutlich purpurviolettroséfarbene Nuancen angenommen hätte. Und lausche stattdessen den letzten englischen Anweisungen, ehe der Startschuss erklingt.

2 Tage – 250 Kilometer – 4000 Höhenmeter: Ein Gravel-Bikepackingevent wie es im Buche steht.

Dirty Boar ist ein belgischer Veranstalter im Hohen Venn, der über das Jahr verteilt verschiedene Graveltouren und -events anbietet. Die Strecken der Veranstaltungen sind in der Regel nicht ausgeschildert und „unsupported“. Das bedeutet, die Strecke ist nicht markiert und jeder muss in der Lage sein, dem Track folgen. Es gibt keine Verpflegungsstellen und auch keine Zeitmessung. Dafür gibt es umso mehr Gemeinschaft und ein vom Veranstalter organisiertes Abendessen sowie Frühstück. Mehr Infos unter https://www.dirtyboar.be/bikepacker

Man reiche mir einen Wald

Die Wege ziehen ins Land und ich hinterher. Nach den ersten Kilometern Aufregung zerpflückt sich die Gruppe mit jedem Meter mehr. Und auch ich werde ruhiger. Genieße den warmen Wind – berühre Kieselsteine, die unter den Reifen tanzen.

Nach etwa 20 Kilometer erwartet uns das erste technischere Stück. Ich verlager das Gewicht, bin hochkonzentriert. Mit jeder kleinen Wurzel und großen Furche wächst mein Selbstvertrauen, meine Freude. Immer sicherer fahre ich durch rutschigen Kies und schroffe Felsen. Wie die Königin des Gravelbikes kämpfe ich mich weiter voran und atme fast schon erleichtert auf, als der nächste Anstieg beginnt.

30 Kilometer – 500 Höhenmeter

Der Weg folgt dem Wald, der Wald der Natur. Auf Schotterpfaden fahren wir tiefer in die Eifel hinein. Und während die Sonne zwischen den Ästen glitzert, glitzer‘ ich zurück. Die Wasservorräte schwinden minütlich und das, wo es keine Möglichkeit auf dem Weg gibt, Getränke nachzufüllen.

Ich packe meine Tasche und nehme mit…

Neben Ultraleicht-Matratze, Schlafsack, Regenkleidung und Co, haben ich-warte-oben und ich entschieden, unserer Ultralaufverpflegung auch beim Radfahren treu zu bleiben: Neben 1.5 l Flüssigkeit (in 2x 750ml Flaschen) landen Riegel, Gummibärchen, Nüsse und alles was im Supermarkt einkaufenswert scheint, in den Snacktaschen, die nicht nur von mir liebevoll so bezeichnet werden, sondern auch tatsächlich so heißen.

Die Sonne brennt unermüdlich auf mich herab und meine Beine gleich mit. Jeder noch so kleine Anstieg entzündet einen kleinen Funken in meinen Oberschenkeln, der schnell zu einem lodernden Feuer wächst. Wir planen einen Supermarktstop ein, der einen Umweg zehn Kilometer vor dem Ziel bedeutet. Doch ziehen dafür umso freudestrahlender mit eiskalter Cola unseren Siegeszug ins Camp ein.

Campingidylle – Spanferkelmassaker

Im Camp gibt es ein großes Abendessen und kalte Getränke stehen zum Kauf bereit. Sogar warme Duschen und mehrere Toiletten sind in der Hütte verfügbar. Eine wahre Traumerfüllungseuphorie.

Der Regenwald im Hohen Venn

Das Prasseln auf das Zeltdach verheißt nichts Gutes. Die Wetterfee meldete Regen und Unwetter und lässt nun die Frösche tanzen. Als wir um 9 Uhr aufbrechen, sind viele schon auf dem kürzesten Weg zu ihren Autos aufgebrochen. Aber heißt es nicht:

Jeder der sagt, Sonnenlicht bringt Freude, hat noch nie im Regen getanzt.

Der Track begrüßt uns gleich durch rasante Höhenmeter und losen Splitt, viel losen Splitt. Wie ein Rodeoreiter spure ich mein Rad und die weichen Schlammwege gleich mit. Statt Schirm und Melone gibt es heute Sporen und Peitsche. Die Anstrengung steht mir ins Gesicht geschrieben und meine braungesprenkelten Beine glänzen feucht von der Wärme des Waldes und dem Regen des Himmels.

Nach 30 Kilometern führt der Track schließlich auf einem Waldweg steil bergab.

…Und da passiert es …

Mit einem Mal geht alles ganz schnell. Während ich mich innerlich noch dafür beglückwünsche auf der Rasenkante statt im Matsch mit über 31 km/h bergab zu brettern, sehe ich im nächsten Moment die Welt kippen. Spüre, wie ich hart auf dem Boden aufschlage; mitsamt Rad 4 Meter über den Boden schlitter, bis ich meinen Kopf nicht mehr oben halten kann. Und endlich zum Stehen komme.

„Alles gut, es ist alles gut, alles in Ordnung“

Wie eine Schallplatte wiederhole ich den Satz, der mir vermutlich selber sagen soll, dass niemand sich sorgen muss – Die Welt in Ordnung ist.

Hallo Kreislauf, schön, dass sie auch wieder zugegen sind.

In meinen Ohren rauscht das Blut. Ich brauche einige Minuten, bis ich mich sortiert habe. Es sind keine offenen Stellen zu sehen, und ich habe das gute Gefühl, dass nichts gebrochen ist. Meinen Arm kann ich schließlich noch unter Schmerzen heben und den Kopf zumindest zu einer Seite drehen. Das wird reichen. Müssen.

Erst beim Wiederaufsteigen, merke ich, dass der Lenker verbogen, die Schaltung defekt ist. Doch es funktioniert noch – mein Rad und ich.

Etwas unsicher eiere ich weiter. Etwa zwei Kilometer weit – Bis zum nächsten steilen Anstieg. Das Rad gräbt sich immer tiefer ein und wirft mich schließlich ab. Ich versuche zu schieben. Doch mein Körper quittiert das mit einer großen Schmerzwelle. Mein Mut ist gebrochen. e-Moutainbikefahrer fahren auf dem Singletrail an mir vorbei, während mir die Tränen über das Gesicht strömen.

Regen trocknet Tränen und wird zu Flüssen

Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, hat der Himmel offenbar alle Schleusen geöffnet. Wege werden zu kleinen Flüssen und großen Abenteuern. Das Rad tanzt zwischen Sturzbächen, während wir uns 30 Kilometer lang über eine Mountainbikestrecke weiterkämpfen.

Auch heute liegt keine Einkehrmöglichkeit auf der Strecke. Als wir nach 60 km einen Umweg auf uns nehmen, vor einer verschlossenen Fritüre stehen und mein Radcomputer die Tour auf halber Strecke speichert, ist die innere Massakerstimmung perfekt.

Mit Riegel im Bauch und Gegenwind im Lenker fahren wir weiter. Ich bin nass bis auf die nicht vorhandene Unterhose und der Weg gefühlt doppelt so anspruchsvoll, wie am Tag zuvor. Nachdem wir schließlich am höchsten Punkt der Tour ankommen, vier andere müde Kämpfer fröhlich winkend im Restaurant sitzen sehen und einen warmen Kaffee im Stehen trinken, fällt eine große Last von mir ab.

Wir sind nicht alleine – Und das Ziel zum Greifen nah.

Die weite Landschaft des Hohen Venns wir bald durch ein seichtes Bergab des asphaltierten Talsperrenweges abgelöst. Und wie zur großen Belohnung öffnet der Himmel für einen kurzen Moment seine Wolkendecke. Die letzten Kilometer düsen wir im Sonnenschein bis zu der Löwenskulptur hinab. Und stehen schließlich da.

An meinem persönlichen Ziel – Am großen Löwenkämpfer.

Fazit der Tour: Wiederholungswürdig und wunderschön.

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Dirty Boar 2022 – ein wildschweinhaftiges Bikepacking-Event

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