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Ich biege um die nächste Kurve und sehe erneut das Grauen: Kopfsteinpflaster. Ich seufze laut auf. Seit geschlagenen 60 Kilometern rattern wir wie über Gleise, gemischt mit einem zarten Hauch hüfthohen Grases, das noch keinen Traktor der Welt zu Gesicht bekommen hat. Meine Beine sind von einer Staubkruste bedeckt, die nur durch braun gezeichnete Wasserlinien meiner Trinkflasche unterbrochen werden. Wie ein Rodeoreiter sitze ich auf dem Sattel und mit jedem Schlag, der mir durch Mark und Bein fährt, wird das Zweifeln größer. Transbelgien – War das vielleicht doch eine blöde Idee?

„Mit einem Traum und einer Maus fing alles an“ (Walt Disney)

In meiner Laufpausenzeit 2022 war die größte Herausforderung ein neues Ziel zu finden. Ein Bikepacking-Event musste her – geplant und organisiert von großartigen Menschen, die dazu noch das weltbeste Logo der Welt entworfen haben: DirtyBoar.

Regen, ein schmerzhafter Sturz und unzählige Höhenmeter machten die Sache nicht besser, doch am Ende siegte der Stolz. Und so war der Grundstein gelegt. Als DirtyBoar bekanntgab, dass sie im Jahr 2023 kein Bikepacking-Event planen, dafür aber einen Transbelgian-Track kostenlos zur Verfügung stellen, war die Idee für das Pfingstwochenende klar – Und das Kribbeln zurück.

Start in Oostende

Tag 1 – 174 km mit 620 Höhenmetern

Das Licht wirft einen letzten Schein auf mein orangerosarot getünchtes Gesicht, das von einem nervösen Lächeln überzogen wird. Stille. Für den Moment kann ich mir noch nicht vorstellen das Meer wieder in aller Früh zu verlassen. Oostende. Die Stadt an der die Transbelgien-Reise beginnt.

[4 Tage, 544 Kilometer und 4800 Höhenmeter]

Geschniegelt und gestriegelt lassen ich-warte-oben und ich nach einem letzten Foto das Meer hinter uns und machen uns auf den Weg zum Ziel. Der Asphalt rollt unter den Reifen daher und die Sonne kitzelt mein Gesicht. Weite Felder liegen vor uns und nur vereinzelt treffen wir auf Bauernhäuser oder winzige Dörfer. Nach einem kurzen Verfahrmanöver, bei dem wir auf einer Stacheldraht umzäumten Kuhweide laden, statt uns wie gewollt ohne Schwert und Machete durchs Dickicht zu schlagen, kommen wir an einem wunderschönen Kanal aus. Alles fühlt sich leicht an – der Wind, die Strecke und selbst die circa 10 Kilogramm Zuladung, die jeder von uns auf dem Rad bei sich trägt.

Das erste Drittel der Strecke ist flach gezeichnet und da die wirklich harten Stücke noch auf sich warten lassen, entscheiden wir uns, anfangs ordentlich Kilometer zu machen. Wir haben uns einen Campingplatz in 170 Kilometern ausgeguckt, den wir als Tagesziel grob angepeilen.

Gut gelaunt passieren wir ein wunderschönes Schloss, lassen die Stadt Brügge hinter uns und radeln voran. Ein breites Strahlen überzieht mein Gesicht und ich könnte mir nichts schöneres für den Moment vorstellen. Unter uns rauschen Schotterwege und mit Gras bewachsen Feldwege daher und als wir nach circa 100 km ein Restaurant mit 559 Bieren finden, scheint das Glück perfekt.

Die Sonne sinkt tiefer und wirft lange Schatten hinter uns. Ich habe mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren und da uns außer einer Vielzahl von Traktoren niemand begegnet, spielt es im Prinzip auch keine Rolle. Erst als wir uns nach den geplanten 170 Kilometern auf die Suche nach dem Campingplatz in Geraardsbergen machen, spüre ich die Erschöpfung in meinen Knochen. Nach einer schnellen Dusche schlafe ich im Sekundentakt ein – Und wache erst von der Sonne im Zelt geweckt am nächsten Morgen wieder auf.

Frühstück fassen, Zelt abbauen.

Das Praktische an einem Campingplatz ist, dass man auf einem Campingplatz ist: Neben einer heißen Dusche, wartet für mich so am nächsten Morgen auch eine Auswahl an Brötchen und heißem Kaffee im Campingkiosk.

Ein schwerwiegender Fehler

Tag 2 – 132 Kilometer mit 1200 Höhenmetern

Wir lassen uns von unseren Radcomputern auf dem schnellsten Weg zum Track führen und machen uns darauf gefasst, schon nach wenigen Biegungen die berühmt berüchtige Steigung der Mur der Geraadsbergen zu erreichen, Doch er kommt nicht. Wir folgen den Anweisungen und fahren um Felder herum. Als wir nach zehn Kilometern das erste Mal stoppen und schauen, wo wir sind, stellen wir fest, dass unser Radcomputer uns an der Mur vorbeigeführt hat – und ein Zurückfahren eine zusätzliche Strecke von zwanzig Kilometern bedeuten würde.

Unsere Stimmung ist getrübt. Wir kommen uns wie Betrüger vor – So, als hätten wir den schwersten Teil des ersten Abschnittes bewusst umfahren. Geknickt und uns des ersten Highlights selbst beraubt, entscheiden wir uns weiterzuradeln. Schweigend. Wir biegen auf den nächsten Schotterweg ein und sind genervt, als die neue Satteltasche von ich-warte-oben ein ständiges Schleif-Intermezzo mit dem Hinterrad eingeht. So halten wir alle zehn Minuten an und kommen gefühlt kaum voran.

Erst als wir die Stadt Halle und ein tolles Cyclingcafé erreichen, in der wir Satteltaschen-Werkzeug und neue Radhandschuhe für meine fast schon wundgeriebenen Hände bekommen, hellt sich die Stimmung merklich auf.

Der zweite Teil der Strecke beginnt – Willkommen in Flandern

Hinter Brüssel ändert sich die Landschaft schlagartig: Die Strecke wird waldiger, die Gebiete besiedelter. Wir radeln an einem Hügel mit Löwenskulptur vorbei und erreichen die ersten Kopfsteinpflasterpassagen. Wachgerüttelt und zwischen einer Vielzahl von Sonntagsspaziergängern führt uns der Track durch einen schattigen Königs-Park. Fritten tanken, Schlafplatz suchen.

Als wir verstaubt und verschwitzt an einem traumhaften Campingplatz mit Streichelzoo und Teich ankommen, scheint das wie eine Belohnung für den harten Tag zu sein. Und wir voll motiviert, es mit den Kopfsteinpassagen am nächsten Tag weiter aufnehmen zu können.

Der dritte Tag ist immer der schwerste

Tag 3 – 132 Kilometer mit 1500 Höhenmetern

Von Entenquaken geweckt, staune ich nicht schlecht, als ich am Weg zu den Sanitärgebäuden über eine Kanne mit brühend heißem Filterkaffee stolpere – Wahre Glücksmomentfreude.

Erst als wir aufs Rad steigen und mit einer schleifenden Satteltasche erneut über Kopfsteinpflaster rattern, kehrt die Anstrengung der letzten Tage schlagartig zurück. Die Kilometer vergehen nur zäh, während der Staub aufwirbelt. Wir kämpfen uns weiter: Über zugewachsene Wege, dessen Gras sich mit quälender Langsamkeit im Antrieb verheddert. Die Beine brennen im Gleichtakt mit dem salzigen Schweiß in meinen Augen. Wir befinden uns mittlerweile in Flandern, dort wo jährlich die berüchtigte Flandernrundfahrt für Aufsehen sorgt.

„Es schien mir sinnlos, von den Wundern der Ferne immer nur zu träumen, ich wollte sie erleben.“ (Herbert Tichy)

Müde, vom Gefühl nicht weiterzukommen und vor der sicheren Gewissheit, aus der Sache nur mit einem Schleudertrauma herauskommen zu können, falle ich mit meinem Rad kraftlos ins hohe Gras um. Und überlege, ob es nicht besser wäre, einfach hier liegen zu bleiben.

Huy ui ui

Als wir nach 80 km zerschrammt und durchgerüttelt auf den Ort Huy zurollen, wissen wir innerlich, dass wir es überlebt haben. Ich schaffe es den harten Anstieg der Mur de Huy trotz meinem zwangig Kilogramm schweren Rad hochzustrampeln und werde von einem zweijährigen Mädchen im Garten mit „Courage“ angefeuert. Gefolgt von einem Kirmesfest, waldigen Trails und einem Burgerstopp an einem Imbisswagen. Als wir um 22 Uhr schließlich den dritten geschlossenen Campingplatz erreichen und unsere Zelte heimlich aufschlagen, geht ein langer Tag zu Ende.

Willkommen in den Ardennen

Tag 4 – 105 km mit 1500 Höhenmetern

Am letzten Tag geht es hoch hinaus – So hoch, dass wir die ersten 70 Kilometer nur bergauf fahren werden. Mit schmerzenden Knien und müden Muskeln strampel ich in Schlangenlinien die Anstiege hinauf und lasse mich kraftlos auf der anderen Seite den Hügel hinabrollen. Die Aussichten und Strecken sind großartig und doch spüre ich, dass ich am Ende meiner Kräfte angelangt bin.

Ich versuche die Landschaft um mich herum aufzusaugen. Genieße den Sonnenschein und die Wärme auf meiner Haut. Meter um Meter radeln wir weiter. Ich spüre, wie ich wieder mehr bei mir ankomme und erkenne die ersten Wege wieder, fahre ins Bekannte zurück. Die Schotterwege zum Signale de Botrange, zum höchsten Punkt Belgiens, sind hart. Das Wasser in meinen Flaschen schmeckt nach Staub und Salz. Und ich fahre weiter. Als ich oben ankomme, habe ich das Gefühl die Welt umarmen zu können – Angekommen zu sein.

Die letzten zwanzig Kilometer rasen wir den Berg hinab nach Eupen, folgen weiter der Hauptstraße bis nach Aachen hinein. Und sind zurück: Am Grenzpunkt der Bundesrepublik Deutschland.

Es war die herausfordernste und weiteste Gravel-Overnightertour für mich. Und doch bin ich am Ende unglaublich dankbar für tausende Eindrücke und Kopfmomentbilder. Dirty Boar: Es war wildschweinhaft schön!

Link zum Track online unter: Dirty Boar | Bikepacker 2023

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Transbelgien in DirtyBoar-Manier – Von der Küste bis an die deutsche Grenze

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