Mit weinenden Beinen und lachender Sonne blicke ich zum Ende des Anstiegs. Wie ein Kaleidoskop verschwimmt der höchste Punkt in einem sich stetig windenden Bild, das sich nicht greifen lässt. Mich umgibt die sanfte Ruhe des Waldes, die von Reifen auf Asphalt und meinem lauten Fluchen durchbrochen wird. Laute Stille. Und während das Ende nicht näher zu kommen scheint, frage ich mich, ob man ein Rennrad bergauf schieben darf…
Willkommen in der RTF-Welt
Es ist Anfang August. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und ich bin zusammen mit ich-warte-oben auf dem Weg in Richtung hessisch-bayrischer Grenze. Meine erste RTF steht an:
Ein erstes Mal in der Rennradwelt unterwegs sein, ein erstes Mal an der Radmarathon-Distanz kratzen.
Eine RTF ist übersetzt eine Rad-Touren-Fahrt und meint damit eine Jedermannveranstaltung, die zumindest auf dem Papier kein Rennen darstellt. Stattdessen geht es darum, alleine oder in Gemeinschaft eine beschilderte Strecke in entspannter Atmosphäre abzufahren. Die Strecken sind nicht abgesperrt, werden aber meist so geplant, dass sie über landschaftliche reizvolle Straßen mit möglichst wenig Verkehrsaufkommen führen.
Als Mr. Camper in der Abenddämmerung auf dem Veranstaltungsgelände einrollt, staune ich nicht schlecht: Auf dem Parkplatz tummeln sich Wohnmobile diverser Baujahre, Wohnwagen, umfunktionierte PKW’s und Zelte. Und dazwischen liegen, rollen und quietschen Rennräder, die auf Herz und Nieren geprüft werden. Wildes Trubeltreiben.
Rhön 300 bietet vier verschiedene Streckenlängen an, die zwischen 100 km mit 2000 Höhenmetern und 300 km mit 5000 Höhenmetern weit sind. Da die beiden längeren Distanzen bereits um 6 Uhr morgens starten und vorher vom Veranstalter ein großartiges Frühstücksbuffet angeboten wird, bietet er die Möglichkeit bereits am Vorabend auf dem Veranstaltungsgelände zu übernachten.
Rollenspiele mal anders.
Die Nacht ist kurz. Nachdem der letzte Schraubenschlüssel tief in der Nacht gefallen ist, werde ich kurz darauf vom Leerlauf eines Rades zurück in die Realität geholt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sich dabei um einen Neuzugang handelt oder jemand seine Alpträume verscheuchen wollte, aber immerhin falle ich kurz darauf mit der sanften Melodie von Ritzeln und Bremsen in einen tiefen Schlaf.
Vom Stadionsprecher um 5 Uhr geweckt, beginnt der Tag früh. Eigentlich zu früh. Aber wenn es Frühstück und gutes Wetter gibt, kann es eigentlich nur gut werden.
Euphorie tanken, Reifen aufpumpen – Ich lasse mir Zeit und bewundere die mutigen Menschen, die sich auf den längsten Weg zum Ziel machen. Schon kurz darauf klicke ich mich selber in die Pedale ein. Es geht los! In einem Wechsel aus kurzen knackigen Anstiegen und rasanten Abfahrten, lasse ich Schondra bald hinter mir. Der Blick schweift über weite Felder und kleine Dörfer. Auf spiegelglattem Asphalt rasen die ersten Kilometer unter den Reifen daher. Und ich gleich mit.
Ich genieße die Ruhe des Morgens und beobachte die Sonne, die am Himmel ihre Bahnen zieht. Morgentau frisch. In sanften Serpentinen geht es den zweiten kleinen Hügel hinab, nur um kurz darauf auf einen gut asphaltierten Forstweg einzubiegen. Ich strahle mich über weite Landschaften und kleine Kuhweiden.
Da sich das Feld direkt auseinander gezogen hat, fahre ich die meiste Zeit in meinem Tempo, während ich-warte-oben oben auf mich wartet. Immer wieder Mal überholen uns schnellere Radfahrer, mit denen ich einen kurzen Plausch halte oder Traktorfahrer, die begeistert den Daumen in die Höhe strecken.
Pause in 500 m, Abbiegen, Flaschen füllen, fertig.
Höhenangst auf andere Weise.
Ich pedaliere mich weiter. Die Landschaft wird durchbrochen von lichten Wäldern und dünn besiedelten Gebieten. Ich genieße die Ruhe und verfluche schon jetzt meinen Radcomputer, der mir in den schönsten Rottönen den nächsten Anstieg anzeigt. Freude sieht anders aus. In meinem stetig rotierenden Hamsterrad fahre ich weiter. Und jauchze umso mehr, als ich kurz darauf zu einer schnurgeraden Abfahrt ansetzen darf.
Eigentlich zählt eine Streckenlänge ab 200 Kilometern zu den Radmarathons und eigentlich hätte ich diese Marke gerne „geknackt“. Da bei Rhön300 mit zunehmender Distanz aber auch die Höhenmeterzahl rasant ansteigt, bleibe ich auf der 170 Kilometerstrecke. Und bin heilfroh, nur 3000 Höhenmeter erklettern zu müssen.
Zur Mittagszeit kämpfen wir uns durch ein kleines Städtchen im hochroten Bereich den nächsten Anstieg hoch. Und sind froh, als wir oben das nächste Verpflegungspunktschild entdecken.
Bei Nudeln mit zweierlei Soße, Reis und Suppe vergeht die Pause wie im Flug.
Es geht weiter. An Bahnstrecken vorbei und in Täler hinab. Ich lache mit der Sonne um die Wette, während sich die Strahlen ein fröhliches Muster auf meine Haut malen. Und als in meinen Beine die Musik spielt, beginnt mein Kopf langsam den Countdown zu zählen. Meine längste Strecke ist fast in der Tasche.
„Ich habe ein Brot angerufen. Es war belegt.“
Mit schweren Knochen schwinge ich mich nach dem dritten Verpflegungspunkt ein letztes Mal auf mein Rad. So schön die Strecke auch ist, so gerne würde ich bald ankommen. Das Feuer lodert in meinen Beinen, während in mir der Kampfeswille auflodert – Und ein Anstieg den nächsten jagt.
Mit immer müder werdenden Beinen und den lieben Zurufen von ich-warte-oben „Nicht nachlassen. Du machst das super. Jetzt ist es nicht mehr weit“, wird rot zu gelb und schließlich zu grün.
Meine Füße krampfen, die Beine brennen.
Aus weiter Ferne höre ich das vertraute Knarzen von Stadionsprecher und Musikhall. Das Ziel ist nah. Ich biege um die letzten Kurven, quäle mich noch einen weiteren Anstieg hoch und rolle schließlich Hand-in-Hand unter dem Zielbogen ein. Und bin stolz, meinen ersten Miniradmarathon geschafft zu haben.
Mit schweren Beinen und müden Augen sitze ich schließlich mit Dienst-Radler und Waffel auf dem warmen Asphalt. Lasse die Füße qualmen und das Herz tanzen. Und bin mir sicher, dass dies definitiv nicht meine letzte RTF bei Rhön300 gewesen sein wird.
Geplanter Termin für 2023: 5. August in Schondra