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Über Coronathon und „Stay at home“-Läufe

Fast 9 Uhr – Ungeduldig trete ich von einem Fuß auf den anderen, denn gleich fällt der große Startschuss. Nervös verfolge ich den Sekundenzeiger, der sich langsam aber sicher der großen 12 nähert. Nur noch ein paar Sekunden trennen mich von der Marathondistanz. Nur noch 5-4-3-2-1… Stille.

Kein Startschuss, keine stimmungsvolle Animation, kein Loshetzen, um gut aus dem Startblock zu kommen. Stattdessen Vogelgezwitscher und die Nachbarn, die fröhlich auf der Terrasse frühstücken. In mir breitet sich das Gefühl aus, irgendwie Fehl am Platz zu sein – Umsonst gewartet zu haben. Trotzdem setze ich mich langsam in Bewegung, starte die Uhr und mache mich auf den Weg zum Ziel. Auf, zu meinem ersten „Stay at home-Marathon“.

Da viele Veranstaltungen abgesagt wurden, auf die man zum Teil lange hingefiebert und -trainiert hat, haben sich einige Veranstalter als besonderes Bonbönchen virtuelle Läufe einfallen lassen. Zu einer bestimmten Uhrzeit oder in einem bestimmten Zeitraum können die Läufer einen Lauf zurücklegen. Und das natürlich jeder in seiner Heimat und auch immer nur im eigenen Ermessen. In dieser besonderen Zeit, in der ein Ziel nach dem anderen wegbricht und man immer wieder wie vom Donner gerührt zum Stillstand kommt, sind virtuelle Läufe eine tolle Möglichkeit, um sich selber herauszufordern. Und während man über die Wege der eigenen Heimat läuft, weiß man genau: Gerade jetzt, in dieser Sekunde, laufen tausende andere Menschen auch ihren Marathon. Alleine und doch gemeinsam – alleinsam.

Da auch ich eine von diesen Läuferinnen bin, die sich so einiges für das Frühjahr 2020 vorgenommen hatte und nun irgendwie ein bisschen planlos aus den Laufklamotten guckt, möchte ich auch ein bisschen Wettkampfluft schnuppern. Der HAJ at home (Hannover Marathon at home) soll es werden. Und so geht es bewaffnet mit einer Startnummer und mit der Aussicht auf eine tolle Medaille, die schon sehnsüchtig zu Hause auf mich wartet, auf große Tour.

Die Strecke habe ich seit Tagen geplant, die Verpflegung in der Laufweste dabei und meine Startnummer weht im Wind. Und doch kommt kein richtiges „Racefeeling“ bei mir auf. Schließlich gibt es keinen Ansporn, mich zu verausgaben: Kein Publikum, dass mich nach vorne peitscht. Keine Mitläufer, an die ich mich ranhängen möchte. Und letztendlich auch keine unerbitterliche Atomuhr, die immer weiter läuft und mir meinen persönlichen Rekord streitig machen könnte. Stattdessen genieße ich die Landschaft, bleibe vielleicht auch mal für ein Foto stehen und freue mich über meine tolle Form, die ich in den letzten Wochen aufgebaut habe. …Schade nur, dass das niemand sehen kann. Während ich zwar alles aus mir heraushole und versuche, den Lauf so schön wie möglich zu gestalten, kommt doch keine richtige Spannung auf. Die große Unbekannte fehlt. Und leider sind auch nette Unterhaltungen und kurze Spitzen mit anderen Läufern so nicht möglich.

Einmal rund um die Talsperre

Doch während die Kilometer langsam verrinnen, muss ich ab und an lächeln: Ich laufe gerade einen Marathon mitsamt einer Startnummer hier in der schönen Eifel. Sowas würde ich normalerweise niemals machen. Und als ich der Ziellinie immer näher komme, fühle ich dann doch dieses innere Kribbeln, dass man nur bei einem Rennen spürt. Die Gedanken beginnen zu kreisen: „Ich laufe gerade einen Marathon – einen kompletten Marathon. Wahnsinn. Nur noch 3 km bis ins Ziel“ , Die Zielgerade kommt immer näher… Vom Runnershigh getragen, laufe ich meine letzten Meter durch Menschenmassen, die gerade ihren sonntäglichen Spaziergang machen. Ich sprinte schon nahezu. Eine Verrückte Situation. Statt mich auf den Zielbogen zu fokussieren und die letzten Meter über den roten Teppich zu fliegen, ist mein Blick stur auf die Uhr gerichtet, die gar nicht schnell genug umspringen kann. Ein kurzer Schlusssprint, meine Uhr stoppt. Finisher.

Ich stehe keuchend am Straßenrand und werde von irritierten Fußgängern beäugt. Kein Jubeln, keine Umarmungen, keine buntbedruckte Plane, die ich dankend ablehnen kann. Neben dem Stolz und der Fassungslosigkeit einen Marathon geschafft zu haben, fühle ich mich nun doch wieder etwas Fehl am Platz. Die letzten Kilometer versuche ich zügig und ohne Aufhebens nach Hause zu gehen, wo mich schon mein Finisherbier und meine Medaille erwartet. Schließlich soll mich hier niemand für Verrückter halten, als ich eh schon bin. Erst als ich wieder in der virtuellen Welt unterwegs bin, die Strecken oder Zeiten der anderen sehe und mich über Gratulationen freue, bin ich wieder mit mir im Reinen. Gemeinsam freuen wir uns über etwas, was in der Heimat dann doch nicht so verstanden wird. Virtuell bin ich mit vielen gemeinsam gelaufen. Und doch habe ich mich in der realen Welt mehr einsam als alleinsam empfunden.

Mein Schlusswort lautet also: Niemals wäre ich einfach grundlos einen Marathon gelaufen. Ich freue mich über den wunderschönen Tag und darüber, diese Erfahrung gemacht zu haben. Aber irgendwie fehlte mir der letzte Kick. Denn irgendwie war es alles in allem im realen Leben dann doch nur ein sehr langer Longrun.

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